Sehr geehrter Herr Vorsteher, werte Kolleginnen und Kollegen,
Wir befinden uns am Ende des Jahres 2021 – einem Jahr, in dem wir wieder spüren mussten, dass die Klimakrise auch uns in Deutschland längst erreicht hat und das uns einen Vorgeschmack auf das gegeben hat, was uns noch erwartet. Wir werden daher heute und in Zukunft in allen Haushaltsdebatten in diesem Parlament beantworten müssen, ob wir im Kampf gegen den Klimawandel nicht nur vorangekommen sind, sondern ob wir auch dies mit ausreichender Geschwindigkeit getan haben.
Im diesjährigen Haushaltsplan lässt sich als Indikator zum Klimaschutz nachlesen, dass wir die CO2-Emissionen in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr um über 40.000t reduzieren müssen. Man muss kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass wir dieses Ziel um Längen verfehlen werden. Angesichts der im Vergleich zu 2020 wieder angezogenen Konjunktur könnte es sogar sein, dass die Emissionen gestiegen sind. Wie hätten wir es auch erreichen sollen, haben wir doch noch nicht einmal ein verlässliches Steuerungsinstrument, sondern warten einmal im Jahr auf die Ergebnisse, die im Energiebericht der SWG oder im Klimabericht veröffentlicht werden. Es ist ein bisschen so, als wollten wir bis 2035 schuldenfrei sein, schauen aber nur Ende des Jahres auf unser Konto und zucken mit den Schultern, wenn sich dort nichts tut.
Ich möchte Sie an dieser Stelle nicht langweilen mit einer Aufzählung von neuen Rekordwerten der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, mit neuen Emissionsrekorden durch Waldbrände, mit Bildern aus Kentucky, von der Ahr etc. Aber ich kann Ihnen auch nicht ersparen festzuhalten, dass das unsere neue Wirklichkeit ist – ob wir das wollen oder nicht.
Und die oben gestellte Frage – Haben wir auf allen Ebenen den Kampf mit der erforderlichen Verve vorangetrieben? – ist für uns das wesentliche Kriterium zur Beurteilung des ablaufenden Jahres.
Und bei der Antwort auf diese Frage wird deutlich, dass wir besser werden müssen, viel besser. Das wir bezieht sich dabei zunächst einmal auf Gigg+Volt – wir haben in den letzten Monaten viel verstanden über das System Politik in Gießen und werden dieses erworbene Wissen im kommenden Jahr sicher noch deutlich professioneller einsetzen als wir das bisher gemacht haben. Wir haben sicher auch viele Fehler gemacht, aus denen wir lernen werden für die nächsten Jahre.
Aber das wir bezieht sich noch viel stärker auf die Entscheidungsträger*innen in dieser Stadt, für die wir diese Aussage des Besserwerdenmüssens auch treffen.
Wir haben leider in den letzten Monaten den Eindruck gewinnen müssen, dass die Tragweite der Problematik bei wichtigen Entscheidungsträger*innen in dieser Stadt noch nicht wirklich angekommen ist. Was bei uns stattdessen ankommt, ist das Gefühl, dass 2035Null ein Ziel inter pares ist, schon irgendwie wichtig, aber doch dem Gesamtbild einer wirtschaftlich prosperierenden und weiter wachsen sollenden Stadt unterzuordnen. Wir sind der festen Überzeugung, dass das so nicht richtig ist.
Wir nehmen nicht wahr, dass es mehr als zwei Jahre nach dem Beschluss so etwas wie eine Aufbruchstimmung in Richtung 2035Null in der Stadt gebe – nicht in der Politik, nicht in der Verwaltung, nicht in der Wirtschaft und leider auch nicht in der Bevölkerung. Wir sind viel zu langsam in der Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen, viel zu träge in der Beschäftigung mit den zwingend notwendigen Transformationsprozessen. Stattdessen hat man hier immer wieder das Gefühl, dass die Koalition und die Verwaltung froh sind, wenn ihnen jemand sagt, dass die Verpflichtung 2035Null nicht umgesetzt werden kann. So freut man sich darüber, dass im Rahmen des Verkehrsentwicklungsplans das Planungsbüro eine Systematik für Ziele hat, die sich SMART nennt und bei der das R für realistisch steht. Das kann man dann sehr schön dafür nutzen, um zu demonstrieren, dass alles, was darüber hinausgeht an Zielen oder Forderungen, eben nicht realistisch ist. Und dann hat man in Gießen sehr selten das Gefühl, dass es heißt, jetzt aber erst recht, lasst uns die Widerstände überwinden!
Meine Damen und Herren,
alle Entscheidungen, die wir nicht im Sinne von 2035Null treffen, werden uns in Zukunft auch finanziell teuer zu stehen kommen werden. Daher muss 2035Null aus unserer festen Überzeugung das zentrale Leitmotiv unseres Handelns und jedes künftigen Haushaltes sein. Genauso war die Kampagne gemeint und genau das haben die Menschen erwartet, die den Bürgerantrag unterschrieben haben. Jede Tonne CO2, die wir heute einsparen, ist ein Vielfaches mehr Wert als eine Tonne, die wir 2030 einsparen. Lassen Sie uns daher nicht nur auf die Jahreszahl 2035 blicken, sondern auf jede einzelne Tonne, die wir schon heute vermeiden können.
Und ich kann es nur immer wieder wiederholen - wir haben in Gießen mit den Hochschulen, mit dem vielen bürgerschaftlichen Engagement, mit den vielen jungen Menschen hervorragende Grundvoraussetzungen für den Kampf gegen den Klimawandel, um den uns viele andere Städte sicher beneiden. Wir schaffen es nur leider bisher nicht, diese PS auf die Straße zu bringen. Ich spreche beruflich viel mit skandinavischen Unternehmen und bin immer wieder überrascht, wie viel weiter da auch Entscheider*innen in Verwaltungen und Unternehmen sind in ihren Überzeugungen.
Natürlich wissen wir, dass die Lösungen hart erarbeitet werden müssen und i.d.R. nicht simpel sind. Die Diskussionen um den Verkehrsversuch und dessen zähe Umsetzung zeigen dies. Aber es gibt so viele Dinge, die in anderen Kommunen schon vorgedacht wurden, die schon umgesetzt wurden – wir müssten nur endlich mit der Umsetzung beginnen.
Aber wenn ich dann die Antworten von Frau Weigel-Greilich auf die Anfrage der Kollegin Schmidt zu den Tätigkeiten des Klimaschutzmanagements lese, und es offensichtlich im Wesentlichen darum geht, die Datenbasis in verschiedenen Bereichen zu verbessern, dann fehlt mir jegliches Verständnis. Es muss so schnell wie möglich darum gehen, die Emissionen in Gießen nachhaltig zu verringern. Je schneller wir die Emissionen runterfahren, desto besser und günstiger für diese Stadt und darüber hinaus.
Lassen Sie mich versuchen, unsere Überzeugung in ein Bild zu packen.
Wir wissen alle, dass wir einen 5 Meter hohen Damm benötigen, weil sonst alles überflutet wird. Und da wir das wissen, hilft es uns nicht weiter, dass wir uns auf die Schulter klopfen, weil wir doch dabei sind, einen 1,50 m hohen Damm zu bauen. Das reicht bei Weitem nicht und wir werden dies in den kommenden Jahren schmerzlich erfahren.
Also – Konkret: Was brauchen wir?
- Wir brauchen Leuchtturmprojekte, die der Stadtgesellschaft verdeutlichen, dass sich die Zeiten ändern, weil sie sich ändern müssen. Oder anders formuliert – wir benötigen Projekte, die so spannend und effektiv sind, dass sich Vertreter*innen anderer Kommunen, aus Wissenschaft und Forschung nach Gießen aufmachen würden, um von uns zu lernen. Und wir von Gigg+Volt werden im kommenden Jahr einen Fokus genau darauf legen, solche Projekte zu initiieren.
- Wir brauchen Initiativen, unsere lokalen Unternehmen viel stärker mit einzubinden in die Transformationsmaßnahmen. Gilt für die Wirtschaft und die Investoren jeglicher Provenienz nicht die Verpflichtung zu 2035Null? Gerade die stadteigenen Betriebe müssen hier eine Vorreiterrolle einnehmen.
- Wir brauchen einen Beschluss, nach dem bei jeder Entscheidung, die wir hier treffen, dokumentiert ist, welche Auswirkungen diese auf das Klima hat. Die Antworten des Magistrats auf unseren Antrag zur Einführung einer Klimaverträglichkeitsprüfung von Beschlüssen machen eine gewisse Hoffnung, dass es doch noch dazu kommen wird.
- Wir brauchen natürlich einen Masterplan, wie es ihn ebenfalls in vielen anderen Städten gibt, der eine klare Zielrichtung entwickelt, wie wir die klimatischen, städtebaulichen, infrastrukturellen und v. a. auch die sozialen Fragen lösen wollen und welche Zwischenschritte wir dabei gehen müssen. Allein der Prozess, einen solchen Plan zu entwickeln, wäre unendlich wichtig für Gießen.
- Wir brauchen eine Wirtschaftsförderungs-Politik, die ihren Schwerpunkt darauf legt, Unternehmen in die Stadt zu holen, die die Zielerreichung nicht nur nicht konterkarieren, sondern sie aktiv unterstützen. Das sind die Unternehmen der Zukunft, die wir in Gießen benötigen und die wir ansiedeln sollten.
- Wir brauchen gerade im Kontext 2035Null einen Neuanfang in der Bürgerbeteiligung, die v. a. die Stadt- und Ortsteile aktiv mitnimmt und den Kampf gegen den Klimawandel in die Quartiere bringt und dort das vorhandene lokale Know-how nutzt und die Gießenerinnen und Gießener zum Mitmachen motiviert.
- Wir brauchen einen Klimabericht, mit dem man richtig arbeiten kann und für den man sich nicht schämen muss, wenn man ihn mit dem anderer Städte wie Marburg, Darmstadt, Heidelberg etc. vergleicht
Und, um auf den Haushalt einzugehen - wir brauchen für die nächste Haushaltsrunde zwingend ein Tool, das es uns ermöglicht abzuschätzen, wie viele Investitionen und Maßnahmen, die wir mit dem Haushalt entscheiden, positiv auf die Klimaneutralität einzahlen und wie viele diese Verpflichtung konterkarieren. Das würde Herrn Wright auch ersparen, uns jede kleine Dämmung als Klimaschutzmaßnahme vorzurechnen.
Das, was wir gerade im Bereich Stadtplanung etc. heute beschließen, wird unsere Stadt für die nächsten Jahrzehnte prägen. Also brauchen wir zwingend Transparenz darüber, auf welche Seite der Waage wir mit welcher Entscheidung was und wieviel legen.
- Wenn wir Häuser mit kfw-55-Standard bauen (lassen), legen wir nichts auf die richtige Seite, sondern nur weniger auf die falsche!
- Wenn wir Plastikverpackungen verbrennen, um unsere Fernwärme zu befeuern, legen wir nichts auf die richtige Seite, sondern im optimalen Fall nur weniger auf die falsche!
- etc. pp.
Deswegen müssen wir schauen, dass wir die Investitionsspielräume für den Klimaschutz so weit wie irgend möglich ausschöpfen. Wenn ich Frau Grabe-Bolz recht verstanden habe, haben wir Rücklagen im dreistelligen Millionenbereich. Wann, wenn nicht jetzt, in einer global existenziellen Krise, müssen wir diese Rücklagen nutzen – zumal wenn sie eine Investition in die Zukunft darstellen und (auch finanzielle) Belastungen für zukünftige Generationen verhindern helfen. Auch dies wird im kommenden Jahr ein wichtiges Thema sein, an dem wir intensiv arbeiten wollen.
Diese StVV hat sich mit dem Beschluss vor zwei Jahren dazu verpflichtet, alle für die Erreichung der Klimaneutralitätsverpflichtung erforderlichen Mittel bereitzustellen. Genau so haben wir das gemeint und genauso wurde das beschlossen. Solange der Haushalt das nicht reflektiert, nämlich alle erforderlichen Mittel bereitzustellen, lehnen wir den Haushalt ab, so wie wir das auch in diesem Jahr tun werden, weil er keinen ausreichenden Schritt in die richtige Richtung darstellt.
Werte Kolleginnen und Kollegen,
lassen Sie mich die Gelegenheit auch nutzen, um ein paar Sätze des Dankes zu artikulieren.
Es ist unser Anspruch, mit unserer Arbeit dazu beizutragen, möglichst gute Entscheidungen für Gießen zu treffen. Und umso wichtiger ist es mir, an dieser Stelle meinen Dank an die Verwaltung zu artikulieren für die umfangreichen Zu- und Vorarbeiten.
Und besonders möchte ich meinen Dank ausdrücken an das Revisionsamt. Es ist verwaltungsintern die Einrichtung, die in ihrer weitgehenden Unabhängigkeit für unsere Arbeit als Opposition absolut unverzichtbar ist. Ich bedanke mich beim Revisionsamt dafür, dass es auf offensichtliche Probleme im Jugendamt aufmerksam gemacht hat, die uns – soviel kann ich nach vielen Telefonaten und nach der Lektüre einiger Unterlagen im AEA sicher formulieren – auch im kommenden Jahr noch intensiv beschäftigen werden.
Das heißt mitnichten, dass wir der Arbeit des RA unkritisch gegenüberstünden – das tun wir gegenüber keiner Institution und Organisation. Aber die Art und Weise, wie die Koalition in der Sondersitzung des Haushaltsausschusses mit dem Revisionsamt umgegangen ist, war für uns ein absoluter Tiefpunkt der politischen Kultur im ablaufenden Jahr.
Ich habe mich gefreut, als die Koalition postuliert hat, sie wolle einen neuen Stil der Zusammenarbeit leben. Richtig geglaubt habe ich es von Anfang an nicht – zu viel Macht haben in dieser Koalition immer noch die Vertreter*innen des alten Stils. Und die letzten Monate haben an vielen Stellen gezeigt, dass der neue Stil zumindest bisher nicht viel mehr ist als eine leere Worthülse.
- Über den Umgang mit dem Revisionsamt habe ich eben bereits geredet.
- Aber auch der Umgang mit der Wahl des ehrenamtlichen Magistrats steht hier exemplarisch für eine Politik, die demokratische Rechte neuer Fraktionen gerne mal zur vernachlässigbaren Petitesse erklärt, solange sie den eigenen Machtüberlegungen im Wege stehen.
- Auch der Versuch, das Thema Greensill möglichst klein zu halten, ist der Tragweite des Vorgangs nicht annähernd gerecht geworden. Ich möchte ich an dieser Stelle nur einen Satz des RP Gießen in seiner Beurteilung dieses Vorganges vom 7.Juli 2021 zitieren. „Nach alledem komme ich zu der Bewertung, dass die Stadt Gießen bei den Anlagenentscheidungen nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgegangen ist“ eine Bewertung, die wir als Gigg+Volt nach der erfolgten Akteneinsicht nur unterstreichen und bestätigen können. Und ich kann Ihnen sagen, dass ich bisher noch keinen Gießener und keine Gießenerin gefunden hätte, der die Haltung der Koalition teilen würde.
Und ich weiß natürlich, dass meine Kritik sie so sehr interessiert wie die neuesten Nachrichten von den Osterinseln, aber vielleicht gibt dem einen oder anderen von Ihnen doch zu denken, wie Sie auch von der Presse wahrgenommen wurden im ablaufenden Jahr – so war dort von
- verächtlich machender Kritik an Äußerungen der Opposition die Rede oder davon,
- dass Mehrheit Wahrheit sei – Punkt. Ende der Debatte.
Man wird bei wichtigen Vertreter*innen der Koalition das Gefühl nicht los, dass es ihnen am liebsten wäre, wenn die StVV eine möglichst effiziente Zustimmungsversammlung wäre… Sie anerkennen überhaupt nicht die Rolle der Opposition, dazu beizutragen, Prozesse, Entscheidungen etc. besser zu machen. So viel zum Neuen Stil!
Ich will zum Schluss auch gerne einige Positivbeispiele aus den vergangenen 8 Monaten benennen.
- So haben wir beim Thema PV den Eindruck, dass die von uns seit Langem geforderte Einbeziehung von Dritten auch endlich vom Magistrat so gesehen wird.
- Beim Baugebiet Brauhaus sind sicher Schritte in die richtige Richtung unternommen worden.
- Man hat das Gefühl, dass der Wille zur Verkehrswende bei der Koalition vorhanden ist, auch wenn es mit der Umsetzung weiter hakt.
Aber leider werden diese Themen immer wieder überlagert durch Aktionen wie der Entscheidung von Frau Weigel-Greilich, Pläne zu veröffentlichen, die den Bau einer Straße durch den Schiffenberg vorsehen. Natürlich weiß ich, dass die Koalition dieses Thema so schnell wie möglich abräumen wollte. Aber wieso ist das nicht vor der Veröffentlichung erfolgt?
Oder es wird überlagert von offensichtlich vorhandenen Plänen, das interkommunale Gewerbegebiet Allendorf über eine riesige Brücke verkehrlich an die B49 anzuschließen, wenn Informationen, die ich von Naturschützern erhalten habe, richtig sind.
Ganz zum Schluss möchte ich sagen, dass wir sehr gespannt sind auf den neuen OB. Herr Becher, wir wollen Sie nicht mit Erwartungen überfrachten, aber wir setzen schon darauf, dass Sie als jemand, der wie wir von außen kommt und wie wir manchmal mit einer gewissen Verwunderung auf das eine oder andere Geschehen hier in der Stadt schaut, den neuen Stil, von dem Sie ja auch sprechen, tatsächlich auch leben werden. Wir werden gerne unseren Teil dazu beitragen, Sie dabei zu unterstützen.
Gehalten von Lutz Hiestermann, Gigg+Volt, im Rahmen der Stadtverordnetenversammlung am 16. Dezember 2021